In Physik und Technik hängen viele Größen davon ab, wie schnell sich andere ändern. Zum Beispiel ist die Geschwindigkeit die zeitliche Änderungsrate des Orts, die Beschleunigung ist die zeitliche Änderungsrate der Geschwindigkeit, die Kraft ist die örtliche Änderungsrate der potentiellen Energie … Wenn wir diese Größen als Funktionen aufzeichnen, sehen wir die Änderungsrate als Steigung des Graphen.
Mathematisch fassen wir den Begriff der Änderungsrate über den Differentialquotienten, indem wir eine Funktion ableiten bzw. differenzieren:
.
Rein prinzipiell könnten wir eine riesige Tabelle erstellen, wo für jede Funktion ihre Ableitung drinnen steht. Spätestens bei ,
,
… beginnt man an dieser Idee zu zweifeln. Stattdessen haben wir z.B. die allgemeine Regel, dass für jede differenzierbare Funktion f und jede Konstante k gilt:
. Diese und weitere Regeln sind die Ableitungsregeln, die wir in richtiger Reihenfolge anwenden müssen. Bzw. müssten – denn oft schleichen sich hier Fehler ein.
Interessanterweise schaffen ein Kondensator und ein Widerstand das quasi nebenbei.
Spannung und Stromstärke
Natürlich schreiben Kondensatoren und Widerstände keine Ableitungen auf Papier. Wir müssen ihnen die abzuleitende Funktion als elektrisches Signal liefern und bekommen die Ableitung ebenfalls als elektrische Messung zurück.
In der Elektrotechnik messen wir am häufigsten Spannungen und Stromstärken. Beide werden durch dasselbe elektromagnetische Feld verursacht. Die Spannung u ist im Wesentlichen die Änderung der potenziellen Energie, wenn wir eine (gedachte) Ladung in dem Feld verschieben. Sie ist damit eine Eigenschaft des elektromagnetischen Feldes selber.
Sobald ein elektromagnetisches Feld auf Materie einwirkt, können Ladungen verschoben werden – sprich Ströme fließen. Die pro Zeit bewegte Ladungsmenge ist die Stromstärke i.
Spannungen sind leichter zu messen als Stromstärken, weil wir die Strippen des Voltmeters einfach nur an zwei Punkte einer Schaltung halten brauchen. Für die Stromstärke müssen wir typischerweise den Stromkreis an einer Stelle öffnen und über das Amperemeter wieder schließen. Außerdem sieht man sich zeitlich veränderliche Größen gerne mit dem Oszilloskop an – und das kann nur Spannungen messen.
Bauteile (Materie)
Weil Spannung und Stromstärke vom selben elektromagnetischen Feld stammen, hängen die beiden natürlich zusammen. Allerdings für jedes Bauteil (Anordnung von Materie) anders.
Für Widerstände (s. Abb. 1) ist der Zusammenhang zwischen Spannung und Stromstärke i sehr einfach:
,
wobei R der Widerstand (Wert) des Widerstands (Bauteil) ist. Das ist das ohmsche Gesetz.

Für alle anderen Bauteile ist der Zusammenhang komplizierter. Z.B. gilt für einen Kondensator (s. Abb. 2) mit der Kapazität C
.
Hier hängt die Stromstärke i nicht von der Spannung selber ab, sondern wie schnell sich diese zeitlich ändert (
).

Wunderbar, das ist doch, was wir wollen: Bis auf einen konstanten Faktor ist die Stromstärke die Ableitung der Spannung. Aber wie schon oben erwähnt: Wir würden gerne Spannungen messen.
Differenzierer
Wir müssen unsere Stromstärke also wieder in eine Spannung umwandeln. Und dazu können wir einen Widerstand R verwenden (s. Abb. 3). Der bringt zwar einen weiteren konstanten Faktor rein, aber es gilt jedenfalls
.

Die Spannung am Widerstand ist bis auf den Faktor RC gleich der Ableitung der Kondensatorspannung
. Leider können wir
nicht direkt einstellen. Unser Signal ist die Eingangsspannung u ganz links.
Aufgrund der Kirchhoffschen Maschenregel ist , also gilt
.
Daher ist im Wesentlichen die Ableitung von
– da beißt sich die Katze ein bisschen selbst in den Schwanz.
Zum Glück ist noch nicht alles verloren. Wenn betragsmäßig viel kleiner ist als u, dann passt es näherungsweise:
.
Wann ist das der Fall? Naja, wenn die Änderungsrate unseres Signals betragsmäßig klein ist, also wenn sich unser Signal u nicht zu schnell ändert. Und wie schnell sich u ändert, hat mit der Frequenz zu tun.
Zumindest periodische Signale können wir als Summe von Sinus-Schwingungen unterschiedlicher Frequenzen schreiben (Fourier-Reihe). Aufgrund der Summenregel ist die Ableitung einer Summe die Summe der Ableitungen. Daher brauchen wir uns nur anschauen, was mit einzelnen Sinus-Signalen unterschiedlicher Frequenz passiert. Man nennt das den Wechsel vom Zeit- in den Frequenzbereich.
idealer Differenzierer
Was erwarten wir uns von der Ableitung einer Sinus-Funktion? Nehmen wir ein sinusförmiges Signal
mit Amplitude , Kreisfrequenz
und Phase
. Seine Ableitung ist
Der Faktor kommt aufgrund der Kettenregel dazu, und die letzte Zeile gilt, weil der Cosinus ein 90° nach vorne geschobener Sinus ist.
Die Ableitung einer allgemeinen Sinus-Funktion ist also wieder eine allgemeine Sinus-Funktion derselben Frequenz. Allerdings haben sich Amplitude und Phase geändert. Für einen idealen Differenzierer erwarten wir uns im Frequenzbereich zwei Dinge:
1. Das Verhältnis der Amplituden von Ableitung und Signal ist
und damit proportional zur Frequenz.
2. Die Phasenverschiebung von Signal zu Ableitung beträgt +90°.
nicht-idealer Differenzierer
Sinusförmige Spannungen und Stromstärken können wir als Projektionen von gleichförmig rotierenden Pfeilen ansehen, die wir durch komplexe Zahlen beschreiben. Unsere Spannungen u und werden dann durch die komplexen Effektivwerte
bzw.
dargestellt. (Effektivwerte und Amplituden unterscheiden sich beim Sinus nur durch einen Faktor
, der sich in allen folgenden Spannungsverhältnissen wegkürzt.)
In diesem Bild ist das RC-Glied aus Abb. 1 ein komplexer Spannungsteiler. Die Spannungen verhalten sich dabei wie die Impedanzen, d.h. die komplexe Spannungsverstärkung ist
.
Wir erhalten für das Verhältnis der beiden Spannungsamplituden
,
weil der Betrag des Quotienten zweier komplexer Zahlen gleich dem Quotienten der Beträge ist. Das sieht jetzt nicht wirklich nach proportional zur Frequenz aus.
Für kleine Frequenzen allerdings, wenn viel kleiner als 1 ist, wird
viel größer als 1. Wir können dann den addierten Einser vernachlässigen:
.
Solange unser Signal nur Kreisfrequenzen enthält, die weit unterhalb der Grenzkreisfrequenz
liegen, ist das Amplitudenverhältnis also tatsächlich proportional zu . Den zusätzlichen Faktor RC haben wir ja schon im Zeitbereich gehabt. Mit
erhalten wir für die Grenzfrequenz
.
Für die Phasenverschiebung von u zu benötigen wir den Winkel der Spannungsverstärkung
In der 1. Zeile haben wir verwendet, dass bei der Division komplexer Zahlen ihre Winkel subtrahiert werden. Zeile 2: Der Winkel einer positiven reellen Zahl wie 1 ist immer 0, ansonsten der Arkustangens von Imaginär- durch Realteil. (Weil der Realteil hier 1 und damit sicher größer als 0 ist, brauchen wir uns um den II. und III. Quadranten keine Sorgen machen.) In der letzten Zeile verschwinden die Minuszeichen, weil der Arkustangens eine ungerade Funktion ist.
Wenn wir weit unterhalb der Grenzfrequenz sind, ist sehr klein und damit
sehr groß. Damit wird der Arkustangens ungefähr +90°.
Für große Frequenzen wird die komplexe Spannungsverstärkung , und daher
. Unser RC-Glied verhält sich damit als Hochpass, weil Spannungen hoher Frequenz praktisch unverändert durchgehen, mit niedrigen Frequenzen aber nicht.
Bode-Diagramm
Abb. 4 zeigt sowohl das Amplitudenverhältnis als auch die Phasenverschiebung als Funktion der Frequenz in einem sogenannten Bode-Diagramm. In so einem Diagramm werden die Frequenzen und auch das Amplitudenverhältnis logarithmisch aufgetragen.

Der Vorteil von einem doppelt-logarithmischen Koordinatensystem ist, dass eine direkte Proportionalität als Gerade mit Steigung 1 dargestellt wird. Das sind die berühmten 20dB/Dekade. Aus folgt nämlich mit den Logarithmen-Rechenregeln
.
Entsprechend sehen wir für Frequenzen viel kleiner als , dass das Verhältnis
proportional zur Frequenz ist. Wenn wir in die Nähe der Grenzfrequenz kommen, knickt die Kurve aber ab und wird konstant 1. Der physikalische Grund dafür ist, dass der Kondensator bei hohen Frequenzen praktisch ein Kurzschluss ist, und damit
wird. Für einen idealen Differenzierer hätten wir für alle Frequenzen eine Gerade mit Steigung 1.
Ebenso ist die Phasenverschiebung für kleine Frequenzen +90°, wie wir es für einen idealen Differenzierer gerne hätten. In der Nähe der Grenzfrequenz weicht sie aber schon stark von diesem idealen Wert ab.
Unsere einfache Schaltung kann also nicht jedes beliebige Signal exakt differenzieren. Aber dort wo sie funktioniert, sieht es (bis auf den konstanten Faktor RC) gut aus.
Beispiele
Abb. 5 zeigt den Aufbau des Differenzierers. Das Eingangssignal wurde von einem Funktionsgenerator erzeugt. Es geht über ein T-Stück in die Schaltung und in Kanal 1 des Oszilloskops. Das Ausgangssignal geht in Kanal 2 des Oszilloskops.

Als Bauteile habe ich und
verwendet, was eine Grenzfrequenz von
ergibt. Für eine hohe Grenzfrequenz hätten wir zwar gerne einen kleinen Widerstand, aber der würde den Funktionsgenerator irgendwann praktisch kurzschließen. Der 3.3 nF-Kondensator lag gerade herum …
Als Signalfrequenz habe ich zunächst 1 kHz verwendet – und mich dann über das Rauschen des Ausgangssignals gewundert. Nach 5 Minuten herum probieren mit verschiedenen Kabeln ist mir dann eingefallen, dass das Amplitudenverhältnis in diesem Fall 0.002 ist. Wir wollen zwar weit unterhalb der Grenzfrequenz liegen, aber nicht so weit, dass wir nur noch Rauschen messen. Eine Verzehnfachung auf 10 kHz hat dann sinnvolle Signale ergeben (die aber auch noch etwas verrauscht waren). Die Eingangsamplitude wollte ich nicht verzehnfachen, um den Funktionsgenerator nicht zu beleidigen.
Abb. 6 zeigt ein reines Sinus-Eingangssignal (gelb) und dessen Ableitung (blau). Von der Amplitude abgesehen, ist die blaue Kurve die gelbe Kurve um eine Viertelperiode nach vorne geschoben. Das Ausgangssignal ist also tatsächlich ein Cosinus. Als Phasenverschiebung zeigt das Oszilloskop -95.76° statt +90° an. Diese komische Vorzeichenkonvention ist zwar im Manual so beschrieben, widerspricht aber leider der mathematischen Konvention.

Beide Signale haben eine Amplitude von einem »Kasterl« (dank Auto-Setup). Allerdings entspricht dieses Kasterl für die Eingangsspannung 1 V, für die Ausgangsspannung aber nur 20 mV. Wir haben also . Mit unserem R– und C-Wert erwarten wir bei 10 kHz für dieses Amplitudenverhältnis den Wert 0.021, was sehr gut mit der Messung übereinstimmt.
Wenn wir statt dem Sinus-Signal ein Dreieck-Signal nehmen, erhalten wir die Messung in Abb. 7. Das Dreieck-Signal ist stückweise linear, die Steigung (Ableitung) wechselt daher zwischen einer positiven und einer negativen Konstanten hin und her. Wenn die Linie nach oben geht, ist die Steigung positiv, sonst negativ.

Interessant wird die Sache, wenn das Eingangssignal ein Rechteck ist (s. Abb. 8). Da ist die Eingangsspannung stückweise konstant, ihre Steigung und Ableitung daher gleich Null. Nur an den Sprungstellen ändert sie sich sehr schnell. Deshalb sehen wir in der Ableitung diese kurzen, großen Spitzen.

Diskussion
Zumindest für ein paar periodische Funktionen haben wir gesehen, dass ein Kondensator und ein Widerstand differenzieren können. Sie machen das natürlich nicht willkürlich, sondern aufgrund ihrer physikalischen Eigenschaften (und wie sie geschalten sind).
Allerdings muss man auf die verwendete Frequenz achten: Der Differenzierer funktioniert nur gut für kleine Frequenzen.
Wie wir auch gesehen haben, ergänzen sich die Diskussionen im Zeit- und Frequenzbereich. Im Zeitbereich ist klar, dass die Ableitung des Signals klein sein muss. Aber erst im Frequenzbereich sehen wir, wann das wirklich der Fall ist.
In den Beispielen oben habe ich mir um die exakten Werte für R und C nicht viele Gedanken gemacht. Wenn man eine Schaltung für einen bestimmten Zweck entwirft, sollte man sich die Grenzfrequenz aber genauer ansehen. Speziell sollte der Widerstand im Differenzierer auch nicht zu klein (unter 50 Ω) sein.
Mit Hilfe eines Operationsverstärkers (OPV) könnten wir einen etwas idealeren Differenzierer bauen. Da ein OPV aber ein aktives Bauteil ist, hätten wir außer unserem Signal eine zusätzliche Spannungsversorgung (+ und -) benötigt.
Mit der Integration geht es hier weiter.