Der radioaktive Zerfall eines Atomkerns ist ein völlig zufälliger Prozess. Wir können nicht vorhersagen, wann ein bestimmter Kern zerfallen wird. Daher wissen wir auch nicht genau, wann noch wie viele Kerne nicht zerfallen sind.
Andererseits hat fast jeder in der Oberstufe das radioaktive Zerfallsgesetz
kennengelernt. Dabei ist die Zahl der zu Beginn vorhandenen Kerne,
die Anzahl der zur Zeit t noch nicht zerfallenen Kerne und
ist die Zerfallskonstante des Materials. Das ist ein exakter funktionaler Zusammenhang.
Wie kann ein völlig zufälliger Vorgang zu einem exakten Gesetz führen?
Mit welcher Wahrscheinlichkeit zerfällt ein Kern?
Nachdem die Kerne eines instabilen Isotops irgendwann sicher zerfallen, liegt es nahe, dass die Wahrscheinlichkeit für den Zerfall eines Kerns mit der Beobachtungsdauer t zunimmt. Für sehr kurze Beobachtungsdauern
können wir annehmen, dass die Zunahme linear ist
.
Dabei ist eine noch unbestimmte Konstante, die sich als die Zerfallskonstante herausstellen wird.
Es ist nicht wirklich überraschend, dass wir eine Funktion in einem kleinen Bereich linearisieren können. Interessant ist aber, dass ein Atomkern kein Gedächtnis hat. Dadurch gilt unsere Linearisierung in jedem Zeitintervall mit derselben Steigung , egal wann es gestartet wurde. Das ist eine experimentell bestimmte Eigenschaft der Natur, nicht einfach nur eine Annahme.
Jetzt können wir uns überlegen, wie es für beliebig lange Beobachtungsdauern aussieht. Wir können uns irgendeine Dauer t aus k kurzen Dauern zusammengesetzt denken:
.
Um die Zerfallswahrscheinlichkeit zu erhalten, müssten wir über alle Teilintervalle summieren, in denen der Kern zerfallen sein könnte. Wir machen es hier etwas indirekter – direkt mittels geometrischer Reihe dann weiter unten.
Zerfall und Nichtzerfall sind Gegenereignisse zueinander, daher ist die Wahrscheinlichkeit eines Kerns, in der Zeit nicht zu zerfallen, gleich
.
Damit ein Kern in der gesamten Zeit t nicht zerfällt, müssen insgesamt k »Nichtzerfälle« passiert sein. Weil die Kerne eben kein Gedächtnis haben, sind diese k Ereignisse voneinander unabhängig. Daher können wir ihre (jeweils gleichen) Wahrscheinlichkeiten einfach multiplizieren:
.
Unser linearer Zusammenhang gilt für »kurze« Dauern
, was auch immer kurz sein soll. Um auf der sicheren Seite zu sein, sollten wir den Grenzübergang
machen.
Weil ist, können wir für eine fixe Dauer t die Zeitintervalle
beliebig kurz machen, wenn wir gleichzeitig ihre Anzahl k erhöhen. Für
geht daher
und wir erhalten
.
Dieser Grenzwert ist eine Definition der natürlichen Exponentialfunktion (wie Leonhard Euler gezeigt hat).
Die Wahrscheinlichkeit eines instabilen Kerns in der Beobachtungsdauer t zu zerfallen, ist daher
.
Abb. 1 zeigt den zeitlichen Verlauf der Zerfallswahrscheinlichkeit . Wenn
ist, erhalten wir wieder unsere lineare Beziehung.

Um es noch einmal deutlich zu sagen: Wir starten bei sobald wir mit der Beobachtung beginnen, völlig egal wie lange der Kern vorher schon existiert hat.
Würfel als instabile Kerne
Wir können dieses etwas unerwartete Resultat mit einer großen Anzahl von Würfeln vergleichen. In jeder Runde schütteln wir sie kräftig, wodurch jeder Würfel mit Wahrscheinlichkeit 1/6 eine »6« zeigt. Diese Wahrscheinlichkeit bleibt von Runde zu Runde gleich. Würfel, die eine »6« zeigen, nehmen wir nach jedem Wurf aus der Menge heraus, sprich sie »zerfallen«.
Jetzt geben wir zu Beginn einen Würfel dazu, der sich z.B. nur durch seine Farbe von den anderen unterscheidet. Dadurch ändern sich keine Wahrscheinlichkeiten, aber wir können diesen Würfel über mehrere Würfe verfolgen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er irgendwann innerhalb von k Würfen eine »6« zeigt (»zerfällt«), ist dann gleich
.
Die »+« trennen die einander ausschließenden Möglichkeiten voneinander. Der Würfel kann entweder gleich beim 1. Mal »6« zeigen, oder beim 2. Mal, oder beim 3. Mal … oder beim k-ten Mal.
Heben wir den Faktor 1/6 heraus, erhalten wir eine geometrische Summe in der Klammer
,
was wir schließlich zu
vereinfachen können. Den letzten Ausdruck hätten wir über die Gegenwahrscheinlichkeit genauso erhalten wie oben.
Mit der Zeit (der Zahl k der Würfe) kommt diese »Irgendwann-6-Wahrscheinlichkeit« immer näher an 1 heran. Und das, obwohl sie in jedem Wurf immer konstant 1/6 beträgt.
Nach k Würfen ist unsere Wahrscheinlichkeit für keine »6«
.
Für jemanden, der das Experiment schon 3 Würfe länger beobachtet, ist die entsprechende Wahrscheinlichkeit aber
,
also um den Faktor kleiner. Wer von uns hat Recht? – Beide! Der Unterschied liegt einfach in unserer Vorinformation, nicht im Würfelprozess selber. Aus Sicht eines Würfels ist jeder Wurf komplett neu, und die Wahrscheinlichkeit für keine »6« immer 5/6.
Wie viele nicht zerfallene Kerne erwarten wir?
Weil der radioaktive Zerfall zufällig ist, ist die Anzahl der zur Zeit
noch nicht zerfallenen Kerne eine Zufallsvariable. Wenn wir bei
mit
Kernen starten, und die Kerne unabhängig voneinander zerfallen, dann ist
binomialverteilt mit
.
In der Zeit t wiederholen wir den Versuch zerfallen oder nicht -mal, wobei jeder Kern die Überlebenswahrscheinlichkeit
hat. Danach zählen wir, wie viele Kerne nicht zerfallen sind.
Der Erwartungswert dieser Zufallsvariablen ist
.
Schreiben wir für den Erwartungswert einfach
, ist das genau unser Zerfallsgesetz
.
Die Zufallsvariable kann zwar nur ganzzahlige Werte annehmen, ihr Erwartungswert
kann aber reell sein.
Was ist die Zerfallskonstante?
Der Parameter in
hat sich jetzt als die Zerfallskonstante entpuppt. Aber was ist seine Bedeutung?
Es gilt
.
Für sehr kurze Intervalle ist die Zerfallskonstante die Zerfallswahrscheinlichkeit pro Zeit – und die ist konstant! Für lange Zeitintervalle gilt dieser lineare Zusammenhang nicht mehr.
Halbwertszeit und Zerfallskonstante
Aufgrund des exponentiellen Abnahme der Zahl der Kerne, wird ihr Erwartungswert nach jedem Zeitintervall mit derselben Zahl (zwischen 0 und 1) multipliziert
,
egal wann wir dieses Intervall starten. Das Zeitintervall, nach dem immer mit 1/2 multipliziert wird, heißt Halbwertszeit :
.
Weil der natürliche Logarithmus ln die Umkehrfunktion der natürlichen Exponentialfunktion ist gilt
und damit
.
Wenige und viele Kerne
Wie wir unlängst diskutiert haben, erwarten wir die Werte einer Zufallsvariablen am ehesten im Bereich Erwartungswert plus/minus Standardabweichung .
Die Standardabweichung einer Binomialverteilung ist . Damit erhalten wir für den erwarteten Bereich unserer Zufallsvariable
.
Relativ zum Ausgangswert ist das dann
.
Abb. 2 zeigt den zeitlichen Verlauf wenn wir mit nur Kernen starten. Die immer dunkler werdenden Bänder veranschaulichen die
-,
und
-Streubereiche um den zeitabhängigen Erfahrungswert (dünne dunkle Linie). Der Erwartungswert selber ist unser schönes Zerfallsgesetz, und wird nach jeder Halbwertszeit
halbiert.

Wir können bei einer so kleinen Anzahl an Kernen also mit größeren Abweichungen von unserem einfachen Zerfallsgesetz rechnen.
Dass das tatsächlich so ist, zeigen die drei Simulationen in Abb. 3. Jedesmal starten wir mit 50 Kernen, die zufällig zerfallen. Der Bruchteil ändert sich manchmal schnell, wenn mehrere Kerne im selben Intervall zerfallen, manchmal bleibt er über mehrere Zeitintervalle konstant. Der Bruchteil bleibt zwar immer in der »Nähe« der Erwartungswertkurve, aber liegt nur sehr selten genau drauf.
Anders sieht die Sache aus, wenn wir mit einer viel größeren Anzahl an Kernen starten, z.B. 50000 wie in Abb. 4. Hier ist sogar der -Streubereich so schmal, dass er praktisch von der Kurve des Erwartungswerts verdeckt wird.

Wir sollten also nur sehr kleine Abweichungen von unserem Zerfallsgesetz erwarten.
Und genau das zeigen auch die drei Simulationen in Abb. 5. Der Bruchteil noch nicht zerfallener Kerne liegt fast immer exakt auf der Erwartungswertkurve.
Trotzdem ist jeder Durchgang etwas anders. Z.B. waren nach zwei Halbwertszeiten in den drei Simulationen 24.86%, 24.99% bzw. 24.86% der Kerne noch nicht zerfallen, statt jeweils exakt 25%.
Hier ist wieder das »Gesetz der großen Zahl« am Werk, weil wir die Standardabweichung durch
dividieren.
Üblicherweise hat man es mit viel mehr als 50000 Kernen zu tun. In 1 mg einer radioaktive Probe sind rund 1022 Kerne. Daher ist in praktisch allen relevanten Fällen der Erwartungswert eine sehr sehr gute Schätzung für die tatsächliche Anzahl noch nicht zerfallener Kerne.
Python-Pseudo-Code
Die Simulationen aus Abb. 3 und 4 habe ich mit einem Programm simuliert. Der essentielle Teil ist der folgende Python-Pseudocode. Weil wir die Zeit in Halbwertszeiten messen, ist die Zerfallskonstante einfach , was in Python mit
log(2.0)
berechnet wird.
REAL_TIME = 5.0 # Gesamtdauer in Halbwertszeiten
N0 = 50000 # Zahl der Kerne zu Beginn
Nt = N0 # Zahl der Kerne zur Zeit t
# N0 Kerne, die zu Beginn alle existieren
nuclei = [True]*N0
# wir machen 300 Zeitschritte pro Halbwertszeit
NUMBER_OF_TIME_STEPS = 5*300
# Länge eines Zeitschritts
dt = REAL_TIME/NUMBER_OF_TIME_STEPS
for nt in range(0, NUMBER_OF_TIME_STEPS + 1):
# aktuelle Zeit
t = REAL_TIME*nt/NUMBER_OF_TIME_STEPS
# zeige/male den aktuellen Status
# wie hängt davon ab, welche Bibliotheken
# man zur Verfügung hat
# typischerweise wird man das nicht in
# jedem Schritt machen, sondern etwas
# ausdünnen
# jetzt lassen wir die noch existierenden
# Kerne zufällig zerfallen
for i in range(0, N0):
if nuclei[i] and random() <= log(2.0)*dt:
nuclei[i] = False
Nt -= 1
Die Zerfallsgleichung
Wenn wir unser Zerfallsgesetz nach der Zeit t ableiten, erhalten wir
Mit führt uns das auf die Differentialgleichung
.
Die hätte man direkt aus dem Experiment auch aufstellen können, weil man die Änderungsrate ja messen kann und sieht, dass sie proportional zur momentanen Menge N ist.
Das Minus in dieser Zerfallsgleichung brauchen wir, weil durch die Abnahme von N die Änderungsrate negativ ist, aber sowohl das als auch die Teilchenzahl N selber positiv sind.
Diskussion
Die Herleitung des Zerfallsgesetzes aus der Zerfallswahrscheinlichkeit ist in der Schule eher unüblich. Allerdings sieht man da schön, wie das »Gesetz der großen Zahlen« aus dem Zufall einen exakten Zusammenhang hervorbringen kann.
Wesentlich war dabei die Tatsache, dass Atomkerne kein Gedächtnis haben. Das kann man prinzipiell mittels Fermis Goldener Regel ableiten, ich habe es aber selber noch nicht durchgerechnet.
Das Zerfallsgesetz selber ist jedenfalls mit vielen Materialen gut nachgewiesen. Teilweise laufen Experimente seit Jahrzehnten, um Abweichungen festzustellen. Dadurch konnten z.B. Ideen wie »der Zerfall wird durch Sonnenneutrinos ausgelöst« verworfen werden.
Im Frühjahr 2020 habe ich dazu ein ähnliches YouTube-Video gemacht.
Super Artikel! Sehr anschaulich und verständlich erklärt danke!
Danke!