Zeiger und Wechselspannungen bzw. Wechselströme

(2018-05-21 überarbeitet) Wechselspannungen und Wechselströme sind im einfachsten Fall sinusförmig. Warum? Weil kompliziertere periodische Signale die Summe von Sinus-Funktionen unterschiedlicher Frequenzen sind (s. die Serie über Fourier-Reihen). Die einfachste Möglichkeit ist also ein Sinus mit einer Frequenz.

Da die Spannung u(t) (in V) und die Stromstärke i(t) (in A) vom selben elektromagnetischen Wechselfeld erzeugt werden, haben sie auch dieselbe Frequenz. Allerdings können sie zeitlich verschoben sein, müssen also nicht dieselbe Phase haben. Ein solches Beispiel ist in Abb. 1 gezeigt.

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Abb. 1: Zeitlicher Verlauf von Spannung u und Stromstärke i bei einer idealen Luftspule.

Wie in der Elektrotechnik üblich, werden wir hier \underline{j} für die imaginäre Einheit verwenden, weil \underline{i} für die komplexe Stromstärke steht. Außerdem sind unterstrichene Größen immer komplex, nicht unterstrichene immer reell.

Spannungs- und Stromzeiger

In Teil 6 über komplexe Zahlen haben wir gesehen, wie wir Sinus-Funktionen als Projektionen von rotierenden Zeigern ansehen können. Jetzt haben wir zwei Zeiger, die gemeinsam mit derselben Geschwindigkeit rotieren:

\displaystyle\begin{aligned}u(t) &= \hat{u} \sin(\omega t + \varphi_u) = \Im\left(\hat{u} \cdot e^{\underline{j}(\omega t + \varphi_u)}\right)\\ i(t)&= \hat{\imath} \sin(\omega t + \varphi_i) = \Im\left(\hat{\imath} \cdot e^{\underline{j}(\omega t + \varphi_i)}\right)\end{aligned}

Die Amplituden \hat{u} und \hat{\imath} sind die Längen der beiden Pfeile, \varphi_u und \varphi_i die Phasen – sprich die Winkel zur Zeit t = 0.

Amplitude und Phase lassen sich zur komplexen Amplitude (Phasor)

\displaystyle\begin{aligned}\underline{\hat{u}} &= \hat{u} \cdot e^{\underline{j}\varphi_u}\\ \underline{\hat{\imath}} &= \hat{\imath} \cdot e^{\underline{j}\varphi_i}\end{aligned}

zusammenfassen (s. Abb. 2).

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Abb. 2: Die Amplituden und Phasen aus Abb. 1 können in komplexen Amplituden zusammengefasst werden. In dieser Abbildung rotiert nichts!

Damit haben wir dann

\displaystyle\begin{aligned}u(t) &= \Im\left(\underline{\hat{u}} \cdot e^{\underline{j}\omega t}\right)\\ i(t)&= \Im\left(\underline{\hat{\imath}} \cdot e^{\underline{j}\omega t}\right)\end{aligned}

Weil die Zeiger \underline{u} und \underline{i} mit derselben Geschwindigkeit rotieren, bleibt ihre relative Lage immer gleich wie zur Zeit t = 0.

Komplexe Widerstände (Impedanzen)

Spannung und Stromstärke haben dieselbe Zeitabhängigkeit, unterscheiden sich also nur durch ihre komplexen Amplituden. Die Spannung hat einen anderen Betrag (und natürlich eine andere Einheit) als die Stromstärke und eine andere Phase, sprich Winkel. Die komplexe Amplitude \underline{\hat{u}} kann daher durch eine Drehstreckung aus der komplexen Amplitude \underline{\hat{\imath}} der Stromstärke erhalten werden. Das ist aber genau das, was eine komplexe Multiplikation ausmacht.

Aus diesem Grund können wir immer eine komplexe Zahl \underline{Z} (mit passender Einheit) finden, sodass für die komplexen Amplituden

\underline{\hat{u}} = \underline{Z} \cdot \underline{\hat{\imath}}

gilt. Diese komplexe Zahl nennt man die Impedanz und ihre Einheit ist Ω. Nachdem hier nur die nicht-rotierenden komplexen Amplituden eingehen, ist der Zeiger für \underline{Z} zeitlich konstant, rotiert also ebenfalls nicht.

Abgesehen davon, dass es sich um komplexe Zahlen handelt, sieht das aus wie das ohmsche Gesetz aus der Gleichstromtechnik

U = R \cdot I ,

wobei R der ohmsche Widerstand ist. Und tatsächlich, wenn man mehrere Impedanzen zusammenschaltet, ergibt sich die Gesamtimpedanz mit derselben Rechnung – allerdings komplex – wie für Widerstände. Das ist die große Vereinfachung der komplexen Rechnung in der Wechselstromtechnik.

Der Betrag der Impedanz ist

\displaystyle\lvert\underline{Z}\rvert = \left\lvert\frac{\underline{\hat{u}}}{\underline{\hat{\imath}}}\right\rvert = \frac{\lvert\underline{\hat{u}}\rvert}{\lvert\underline{\hat{\imath}}\rvert} = \frac{\hat{u}}{\hat{\imath}}

und ihr Argument ist

\varphi = \arg(\underline{Z}) = \varphi_u - \varphi_i ,

weil bei der Division komplexer Zahlen die Winkel subtrahiert werden. Der Winkel des Impedanz-Zeigers entspricht also der Phasendifferenz zwischen Spannung und Stromstärke.

Ohmscher Widerstand

Bei einem aus der Gleichstromtechnik gewohnten ohmschen Widerstand sind Spannung und Stromstärke in Phase (s. Abb. 3).

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Abb. 3: Spannung und Stromstärke bei einem ohmschen Widerstand sind in Phase. Die beiden Zeiger sind daher parallel.

Die Phasendifferenz ist daher gleich 0, und es unterscheiden sich nur ihre Amplituden. Die Impedanz eines Widerstands ist daher einfach

\boxed{Z_R = R}

und damit eine positive reelle Zahl.

Weitere Eigenschaften des Imaginärteils

Bevor wir uns mit zwei weiteren wichtigen Bauteilen beschäftigen können, müssen wir uns noch kurz über die Eigenschaften des Imaginärteils und seine Vertauschbarkeit mit anderen Operationen unterhalten.

1. Für die Multiplikation mit rein reellen Zahlen r gilt

\Im\left(r \cdot (z_r + \underline{j}z_i)\right) = \Im(rz_r + \underline{j}rz_i) = rz_i = r \cdot \Im(z_r+\underline{j}z_i) .

Wir können also problemlos eine reelle Zahl in den Imaginärteil hinein multiplizieren oder daraus herausheben

\boxed{\Im(r \cdot \underline{z}) = r \cdot \Im(\underline{z})} .

Mit komplexen Zahlen funktioniert das übrigens nicht.

2. Eine komplexe Funktion \underline{f}, die von dem reellen Parameter t abhängt, können wir in Real- und Imaginärteil zerlegen und als

\underline{f}(t) = f_r(t) + \underline{j}f_i(t)

schreiben. Dann haben wir einerseits

\displaystyle\frac{\mathrm{d}}{\mathrm{d}t} \, \Im\left[\underline{f}(t)\right] = \frac{\mathrm{d}}{\mathrm{d}t} \, f_i(t)

und andererseits

\displaystyle\Im\left[\frac{\mathrm{d}}{\mathrm{d}t} \, \underline{f}(t)\right] = \Im\left[\frac{\mathrm{d}}{\mathrm{d}t} \, f_r(t) + \underline{j} \, \frac{\mathrm{d}}{\mathrm{d}t} \, f_i(t)\right] = \frac{\mathrm{d}}{\mathrm{d}t} \, f_i(t) .

Die Projektion auf den Imaginärteil und die Ableitung nach dem reellen Parameter t lässt sich also vertauschen:

\displaystyle\boxed{\frac{\mathrm{d}}{\mathrm{d}t} \, \Im\left[\underline{f}(t)\right] = \Im\left[\frac{\mathrm{d}}{\mathrm{d}t} \, \underline{f}(t)\right]} .

Ähnliches gilt auch für die Integration über einen reellen Parameter

\displaystyle\boxed{\int \Im\left[\underline{f}(t)\right] \, \mathrm{d}t = \Im\left[\int \underline{f}(t) \, \mathrm{d}t\right]} .

Wäre das nicht so, würde die komplexe Darstellung viel von ihrer Nützlichkeit einbüßen. Es geht in der Anwendung dann oft so weit, dass der Imaginärteil gar nicht mehr explizit hingeschrieben, sondern immer erst am Ende der Rechnung berücksichtigt wird.

BTW: Alles, was wir über den Imaginärteil gesagt haben gilt gleichermaßen für den Realteil. Es ist eine Geschmacksfrage, welchen der beiden man verwendet.

Spule

Für (ideale) Spulen gibt es zwischen der induzierten Spannung u und der Stromstärke i den folgenden Zusammenhang:

\displaystyle u(t) = L \cdot \frac{\mathrm{d}i(t)}{\mathrm{d}t} ,

wobei die Induktivität L eine hauptsächlich durch die Geometrie bedingte Eigenschaft der Spule ist. (Mit Eisenkernen wird die Sache komplizierter.) Wie Abb. 4 zeigt, läuft die Spannung der Stromstärke hier etwas voraus. Warum? Die Spannung ist proportional zur Änderungsrate der Stromstärke. Wenn i(t) steil ansteigt, ist u(t) groß; wenn i(t) steil abfällt, ist u(t) auch groß, aber negativ. In der Nähe der Maxima/Minima ändert sich die Stromstärke fast nicht, die Spannung ist dort gleich 0.

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Abb. 4: Bei einer Spule erreicht die Spannung u ihr Maximum immer etwas früher als die Stromstärke i. Man sagt, »die Spannung läuft vor«.

Setzen wir unsere rotierenden Zeiger ein, erhalten wir

\displaystyle\begin{aligned}\Im\left(\underline{\hat{u}} \cdot e^{\underline{j}\omega t}\right) &=L \cdot\frac{\mathrm{d}}{\mathrm{d}t}\,\Im\left(\underline{\hat{\imath}} \cdot e^{\underline{j}\omega t}\right)\\ &= \Im\left(L \cdot \frac{\mathrm{d}}{\mathrm{d}t}\left(\underline{\hat{\imath}} \cdot e^{\underline{j}\omega t}\right)\right)\\ &= \Im\left(L \cdot \underline{\hat{\imath}} \cdot \underline{j}\omega \cdot e^{\underline{j}\omega t}\right)\\ &= \Im\left(\underline{j}\omega L \cdot \underline{\hat{\imath}} \cdot e^{\underline{j}\omega t}\right)\end{aligned}

In der zweiten Zeile haben wir unsere beiden Vertauschbarkeiten verwendet. In der dritten Zeile haben wir verwendet, dass die Ableitung der natürlichen Exponentialfunktion sie selber mal der inneren Ableitung ist (\left(e^{a \cdot t}\right)' = a \cdot e^{a \cdot t}). Zum Schluss haben wir dann nur noch etwas umsortiert.

Obige Imaginärteile sind auf jeden Fall dann gleich, wenn es die komplexen Amplituden selber sind:

\underline{\hat{u}} = \underline{j}\omega L \cdot \underline{\hat{\imath}} .

Weil \underline{\hat{u}} = \underline{Z} \cdot \underline{\hat{\imath}} ist, folgt für eine Spule (Induktivität) die Impedanz

\boxed{\underline{Z}_L = \underline{j}\omega L} .

Eine Multiplikation mit der imaginären Einheit \underline{j} dreht den Stromzeiger um 90° vor, und die Multiplikation mit \omega L macht daraus den Spannungszeiger. Deshalb läuft die Spannung an einer Induktivität der Stromstärke um den Winkel 90° vor.

Kondensator

Ein (idealer) Kondensator ist dual zu einer Spule, weil für ihn eine ähnliche Gleichung wie für die Spule gilt, allerdings sind Spannung u und Stromstärke i vertauscht:

\displaystyle i(t) = C \cdot \frac{\mathrm{d}u(t)}{\mathrm{d}t} .

Dabei ist die Kapazität C wieder von der Geometrie des Kondensators und einem eventuellen Dielektrikum abhängig. Wie Abb. 5 zeigt, erreicht die Spannung ihr Maximum immer etwas nach der Stromstärke, läuft ihr also nach.

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Abb. 5: Bei einem Kondensator erreicht die Spannung u ihr Maximum immer etwas später als die Stromstärke i. Man sagt, »die Spannung läuft nach«.

Rechnet man entsprechend wie bei der Spule, bekommt man für die komplexen Amplituden

\underline{\hat{\imath}} = \underline{j}\omega C \cdot \underline{\hat{u}}

und daher

\displaystyle\underline{\hat{u}} = \frac{1}{\underline{j}\omega C} \cdot \underline{\hat{\imath}} .

Unter Verwendung von \underline{\hat{u}} = \underline{Z} \cdot \underline{\hat{\imath}} ist die Impedanz eines Kondensators (einer Kapazität) daher

\displaystyle\boxed{\underline{Z}_C = \frac{1}{\underline{j}\omega C} = -\frac{\underline{j}}{\omega C}} .

Eine Multiplikation mit -\underline{j} dreht den Stromzeiger um 90° zurück, und die Division durch \omega C macht daraus den Spannungszeiger. Deshalb läuft die Spannung an einer Kapazität der Stromstärke um den Winkel 90° nach.

Effektivwerte

Für die tatsächlichen Berechnungen kommt noch eine Kleinigkeit dazu. Wenn ein Voltmeter eine Wechselspannung misst, was soll es dann anzeigen? Den zeitlichen Verlauf zeigt das Oszilloskop, das Voltmeter kann nur eine Zahl anzeigen. Das könnte natürlich die Spannungsamplitude \hat{u} sein. Um die Messergebnisse aber besser mit dem Gleichspannungsfall vergleichen zu können, verwendet man etwas anderes.

Der Effektivwert U_{\text{eff}} – oder einfach nur U – einer Wechselspannung ist jene Gleichspannung, die an einem Widerstand dieselbe Erwärmung hervorrufen würde wie die Wechselspannung. Für rein sinusförmige Spannungen gilt

\displaystyle U = \frac{\hat{u}}{\sqrt{2}}

und entsprechendes auch für die Stromstärke.

Statt der komplexen Amplituden \underline{\hat{u}} und \underline{\hat{\imath}} verwendet man daher üblicherweise die komplexen Effektivwerte

\displaystyle\begin{aligned}\underline{U} &= U e^{\underline{j}\varphi_u} = \frac{\hat{u}}{\sqrt{2}} \, e^{\underline{j}\varphi_u}\\ \underline{I} &= I e^{\underline{j}\varphi_i} = \frac{\hat{\imath}}{\sqrt{2}} \, e^{\underline{j}\varphi_i}\end{aligned}

Der Rest – insbesondere die Impedanzen – bleibt dadurch gleich! (Die Wurzeln kürzen sich beim Dividieren für die Impedanz weg.)

Diskussion

Die komplexe Rechnung erlaubt es mit Wechselspannungen und -strömen genauso zu rechnen wie mit Gleichspannungen und -strömen. Amplituden und Phasenverschiebungen kommen automatisch richtig heraus – wenn man sich nicht verrechnet. Man muss also »nur« die komplexe Rechnung lernen, und kann sonst so weitermachen wie bisher.

Trotz dieser großen Vereinfachung ist aber nicht alles abgedeckt. Die rotierenden Zeiger repräsentieren Sinusfunktionen, die in der Zeit von -\infty bis +\infty reichen. Sämtliche Ein- und Ausschaltvorgänge sind damit von vornherein nicht berücksichtigt. Diese Fälle müssen gesondert betrachtet werden.

Zusätzlich müssen wir voraussetzen, dass die Wellenlänge des elektromagnetischen Feldes viel größer ist als unsere Schaltung. Nur dadurch haben z.B. die beiden Enden eines Leiters dasselbe Potential. Das ist bereits bei Frequenzen im Mikrowellenbereich (einige GHz) ein Problem:

\displaystyle \lambda = \frac{c}{f} \approx \frac{3\times10^8\,\text{m}/\text{s}}{10^9\,\text{Hz}} = 0.3\,\text{m} .

Das sieht noch gut aus, aber die Abmessungen der Schaltung müssen viel kleiner als \lambda sein. Schaltungen, die für sehr hohe Frequenzen geplant werden, müssen daher anders berechnet werden.

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