Komplexe Zahlen, Teil 4 – eine alternative geometrische Darstellung

In Teil 1 haben wir eine möglich geometrische Darstellung von reellen Zahlen als Pfeile entlang der reellen Achse gesehen. Diese ließ sich auf Pfeile in der Ebene erweitern und führte so zu den komplexen Zahlen.

Diese Pfeile passen gut zur kartesischen Darstellung aus Teil 3. Dort haben wir auch die Polardarstellung kenngelernt, die in gewissem Sinn zur kartesischen »komplementär« ist. Hier werden wir uns die entsprechende geometrische Darstellung überlegen.

Einleitung

Die Idee dazu habe ich aus David Hestenes‘ Oersted Medal Lecture aus dem Jahr 2002 (Am. J. Phys. 71 (2), 104 (2003), eine frei verfügbare Version gibt es hier).

Abb. 1 zeigt zwei graphische Darstellungen der Zahl 2 + \sqrt{12}\,\underline{i} = 4 \angle 60^\circ. Links als geraden Pfeil, was sehr gut zur kartesischen Form 2 + \sqrt{12}\,\underline{i} passt. Rechts als orientierten Kreisbogen, was sehr gut zur Polarform 4 \angle 60^\circ passt. Man sieht, wie diese beiden Darstellungen einander ergänzen.

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Abb. 1: Zwei geometrische Darstellungen der komplexen Zahl 2 + \sqrt{12}\,\underline{i} = 4 \angle 60^\circ. Links als gerader Pfeil, passend zur kartesischen Darstellung 2 + \sqrt{12}\,\underline{i}. Rechts als orientierter Kreisbogen, passend zur Polardarstellung 4 \angle 60^\circ.

Rein prinzipiell könnten die Bögen irgendwo beginnen. Der Einfachheit halber legen wir den Startpunkt immer auf die 0°-Achse.

Wie reelle Zahlen als Bögen darstellt werden, zeigt Abb. 2. Positive Zahlen haben einen Winkel von 0° und werden daher als Punkte dargestellt. Negative Zahlen hingegen werden mit einem 180°-Bogen gezeichnet.

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Abb. 2: Darstellung reeller Zahlen als orientierte Bögen.

Es kann sinnvoll sein, Winkel größer als 360° zu verwenden, bzw. können bei den folgenden Operationen Winkel größer als 360° herauskommen. In diesem Fall, nimmt man für die weiteren Konstruktionen nur den Winkel, der über ein ganzzahliges Vielfaches einer vollen Umdrehung hinausgeht (s. Abb. 3).

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Abb. 3: Für das Rechnen mit komplexen Zahlen können wir die Bögen 3 \angle 480^\circ und 3 \angle 120^\circ als gleich ansehen.

Zusätzlich können auch negative Winkel auftreten und werden manchmal auch gegenüber Winkeln größer als 180° bevorzugt (s. Abb. 4).

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Abb. 4: Auch die Bögen 3 \angle 240^\circ und 3 \angle {-120}^\circ kann man als gleich ansehen.

Addition/Subtraktion

Wie addiert man nun diese orientierten Kreisbögen? Da es sich bei den Bögen ja nur um eine andere Darstellung der komplexen Zahlen handelt, funktioniert die Addition nach der bekannten Parallelogrammregel der geraden Pfeile aus Teil 1 (s. Abb. 5). Man verbindet die Spitzen der beiden Bögen mit dem Ursprung und verschiebt die Linien parallel an die Spitze des jeweils anderen Bogens. Der Summenbogen geht bis zur letzten freien Ecke des Parallelogramms.

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Abb. 5: Die Addition der Kreisbögen 2 \angle 60^\circ und 3 \angle 150^\circ ergibt den Bogen \sqrt{13} \angle 116.31^\circ (Der Betrag ist exakt, der Winkel auf 2 Nachkommastellen gerundet).

Um einen Bogen zu negieren, wird er einfach um 180° verlängert (s. Abb. 6).

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Abb. 6: Der Bogen für -\underline{z} ergibt sich, indem der Bogen für \underline{z} um 180° verlängert wird.

Weil \underline{z}_1 - \underline{z}_2 = \underline{z}_1 + (-\underline{z}_2) ist, können wir jetzt auch Bögen voneinander subtrahieren.

Multiplikation/Division

Wie schon in Teil 1 beschrieben, werden bei der Multiplikation komplexer Zahlen die Beträge multipliziert und die Winkel addiert. Der Radius des Produktbogens kann mit der Methode von Descartes konstruiert werden. Auf den Kreis mit diesem Radius übertragen wir dann die Winkel der beiden Faktoren (s. blaue und rote Linien in Abb. 7). Dort können wir dann mit dem Zirkel den einen Winkel zum anderen addieren, um die Multiplikation abzuschließen.

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Abb. 7: Die Multiplikation der orientierten Kreisbögen 2 \angle 60^\circ und 3 \angle 150^\circ ergibt den Kreisbogen 6 \angle 210^\circ.

Da die Division nur eine Multiplikation mit dem Kehrwert ist, benötigen wir jetzt nur noch eine Methode, um aus \underline{z} den inversen Bogen \displaystyle\frac{1}{\underline{z}} zu konstruieren. Weil \displaystyle \underline{z} \cdot \frac{1}{\underline{z}} = 1 sein soll, muss der Radius des 1/\underline{z}-Kreises gleich 1 durch den Radius des \underline{z}-Kreises sein.

Den Kreis für den 1/\underline{z}-Bogen können wir durch Umkehrung der Konstruktion von Descartes konstruieren (s. Abb 8, links). Wir zeichnen eine geneigte Gerade g durch den Ursprung, die den Einheitskreis im Punkt B schneidet. Den Startpunkt A unseres \underline{z}-Bogens verbinden mit diesem Punkt B. Diese Linie verschieben wir parallel in den Punkt 1 und erhalten den Schnittpunkt C mit der Geraden. Durch diesen Punkt zeichnen wir den Kreis für unseren 1/\underline{z}-Bogen.

Die Summe der Winkel der \underline{z}– und 1/\underline{z}-Bögen muss gleich 0 sein, sprich der eine Winkel muss der negative des anderen Winkels sein. Eine mögliche Konstruktion dafür zeigt Abb. 8, rechts (der Zirkel wurde in den Punkt A eingestochen).

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Abb. 8: Die Konstruktion des inversen Bogens 1/\underline{z} aus dem Bogen \underline{z}.

Was sind komplexe Zahlen jetzt wirklich?

Wir haben zwei verschiedene geometrische Darstellungen für komplexe Zahlen gesehen, nämlich gerade Pfeile und orientierte Kreisbögen. Darüberhinaus gab es in Teil 3 noch jede Menge algebraische Darstellungen.

Welche dieser Darstellungen ist denn jetzt die korrekte? Nun, keine und alle!

Offensichtlich sind gerade Pfeile, orientierte Kreisbögen und z.B. \underline{z} = z_r + z_i\,\underline{i} völlig unterschiedliche Dinge. Trotzdem können sie jeweils verwendet werden, um komplexe Zahlen darzustellen. Die eine, richtige Darstellung gibt es nicht.

Weiter in Teil 5.

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