Was sind reelle Zahlen?

Zeichenketten und Pfeile

In der Schule lernen wir reelle Zahlen als Dezimalzahlen mit indo-arabischen Ziffern zu schreiben. Z.B. fünfhundertsiebenundzwanzig-einhalb schreiben wir als

527.5 .

Für negative Zahlen setzen wir noch einen kleinen Querstrich (ein Minus) vor die Zahl, z.B. minus siebenhundertsechsunddreißig-einachtel:

-736.125 .

Dezimalzahlen sind Zeichenketten aus den möglichen Ziffern 0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, einem Dezimalkomma ».« (oder »,«), und einem eventuellen Vorzeichen (+/-). Diese Zeichenketten können unendlich lang werden (und müssen es für die meisten Zahlen auch sein).

Im 1. Teil über komplexe Zahlen haben wir gesehen, dass man reelle Zahlen aber auch als Pfeile entlang einer Geraden zeichnen kann (s. Abb. 1) – jeder Dezimalzahl entspricht dabei genau ein Pfeil und umgekehrt.

reell_4_3
Abb. 1: Dieselbe reelle Zahl einmal als Dezimalzahl geschrieben (links) und einmal als Pfeil entlang der reellen Achse gezeichnet (rechts).

Was also sind die reellen Zahlen nun wirklich?

Rechnen mit reellen Zahlen

Bevor wir uns der Antwort nähern, schauen wir uns noch einmal an, wie man mit ihnen rechnen kann.

Abb. 2 (links) zeigt die Verknüpfung zweier dezimaler Zeichenketten zu einer dritten – nach einem Algorithmus, den wir aus der Schule kennen. Diese Verknüpfung heißt Addition. Abb. 2 (rechts) zeigt eine konstruktive Verknüpfung zweier Pfeile zu einem dritten, indem einer der ursprünglichen Pfeile parallel an das Ende des anderen verschoben wird.

reell_add_2_1_3_4
Abb. 2: Addition zweier reeller Zahlen: einmal mit Dezimalzahlen (links) und einmal als Konstruktion mit Pfeilen (rechts).

Das sind zwei völlig verschiedene Verknüpfungen auf zwei völlig verschiedenen Mengen von Objekten (Zeichenketten bzw. Pfeile). Interessanterweise gilt jedoch: wenn die erste Dezimalzahl dem ersten Pfeil entspricht und die zweite Dezimalzahl dem zweiten Pfeil, dann entsprechen auch die Resultate der beiden Verknüpfungen einander.

Es gibt noch jeweils eine weitere Verknüpfung, wo das genauso ist (s. Abb. 3), nämlich die Multiplikation.

reell_mul_2_1_3_4
Abb. 3: Multiplikation zweier reeller Zahlen: einmal mit Dezimalzahlen (links) und einmal als Konstruktion nach Descartes mit Pfeilen (rechts).

Sind die reellen Zahlen jetzt also Dezimalzahlen oder Pfeile? Weder noch! Dezimalzahlen und Pfeile, zusammen mit ihren Verknüpfungen, haben aber gewisse Gemeinsamkeiten (man sagt, sie sind isomorph). In gewisser Weise sind die reellen Zahlen das, was Dezimalzahlen und Pfeile gemeinsam haben.

Körperaxiome

Diese Gemeinsamkeiten kann man wie folgt charakterisieren. Wir haben eine Menge von Objekten (Dezimalzahlen bzw. Pfeile). Für diese Objekte gibt es zwei binäre Operationen (Verknüpfungen): eine Addition a + b und eine Multiplikation a \cdot b. Binäre Operation bedeutet, dass wir je zwei Elementen unserer Menge ein drittes zuordnen. Auf welche Art und Weise ist zunächst völlig beliebig, aber wir hätten gerne folgende Eigenschaften:

  1. (Assoziativgesetze) Für alle a, b und c aus der Menge gilt

    a + (b + c) = (a + b) + c    und    a \cdot (b \cdot c) = (a \cdot b) \cdot c .

  2. (Kommutativgesetze) Für alle a und b aus der Menge gilt

    a + b = b + a    und    a \cdot b = b \cdot a .

  3. (neutrale Elemente) Es gibt zwei verschiedene Elemente, nennen wir sie 0 und 1 \neq 0, für die für alle a aus der Menge gilt

    a + 0 = a    und    a \cdot 1 = a

  4. (inverse Elemente) Zu jedem a aus der Menge gibt es ein additiv Inverses (-a) mit a + (-a) = 0; zu jedem a \neq 0 aus der Menge gibt es ein multiplikativ Inverses (1/a) mit a \cdot (1/a) = 1 .

  5. Addition und Multiplikation sind über das Distributivgesetz miteinander verknüpft, das für alle a, b und c aus der Menge gilt

    (a + b) \cdot c = a \cdot c + b \cdot c .

Statt a + (-b) schreibt man kurz a - b und nennt es Subtraktion; für a \cdot (1/b) schreibt man kurz a / b und nennt es Division. Subtraktion und Division sind also nur Umkehrungen von Addition bzw. Multiplikation. Für sie gelten weder Assoziativ- noch Kommutativgesetze.

In der Mathematik nennt man einen Körper jede beliebige Menge von Objekten, für die wir zwei Operationen finden können, die obige Eigenschaften haben (die Körperaxiome erfüllen). Wichtig dabei ist, dass es nicht nur auf die betrachtete Menge ankommt, sondern auf die Menge zusammen mit den zwei Verknüpfungen.

Sowohl unsere Pfeile mit ihren Konstruktionen als auch unsere Dezimalzahlzeichenketten mit ihren Rechenregeln erfüllen diese Körperaxiome, sind also Körper.

Rationale, reelle und komplexe Zahlen sind Körper aus jeweils unendlich vielen Objekten. Es gibt aber auch einfachere Körper, z.B. die 2-elementige Menge \mathbb{F}_2 = \{0, 1\} zusammen mit den Operationen

\displaystyle\begin{array}{c|cc}+ & 0 & 1\\\hline 0 & 0 & 1\\ 1 & 1& 0\end{array} \qquad \text{und} \qquad \begin{array}{c|cc}\cdot & 0 & 1\\\hline 0 & 0 & 0\\ 1 & 0 & 1\end{array} .

Die Eindeutigkeit der reellen Zahlen

Es gibt unendlich viele Körper. Können wir die reellen Zahlen eindeutig definieren?

Zunächst können wir sie der Größe nach ordnen. Für je zwei reelle Zahlen a und b gilt entweder a \leq b oder nicht. Für unsere Pfeile wäre z.B. a \leq b genau dann, wenn die Spitze von a nicht rechts von der Spitze von b ist. Für die komplexen Zahlen können wir das nicht machen. Es gibt viele Pfeile gleicher Länge, die in alle möglichen Richtungen zeigen. Welcher soll jetzt größer als ein anderer sein?

Die reellen Zahlen sind im Gegensatz zu den komplexen Zahlen ein geordneter Körper. Blöderweise sind das die rationalen Zahlen auch.

Mit der Rekursion

\displaystyle x_0 = 2 \qquad \text{und} \qquad x_{n+1} = \frac{1}{2} \cdot \left(x_n + \frac{2}{x_n}\right)

bekommen wir eine Folge rationaler Zahlen, die folgendermaßen beginnt

\displaystyle\left\langle 2, \frac{3}{2}, \frac{17}{12}, \frac{577}{408}, \dotsc\right\rangle

bzw. auf fünf Nachkommastellen gerundet

\langle 2, 1.5, 1.41667, 1.41422, 1.41421, 1.41421, \dotsc\rangle .

Diese Folge rationaler Zahlen kommt immer näher an die \sqrt{2} heran (Heron-Verfahren). Aber \sqrt{2} ist keine rationale Zahl. Die rationalen Zahlen haben an dieser und anderen Stellen quasi Lücken. Fügt man diese Lücken den rationalen Zahlen hinzu, ist das ein Weg, sich die reellen Zahlen zu »basteln«.

Wenn eine Folge reeller Zahlen einer Zahl immer näher kommt, dann ist garantiert, dass diese Zahl auch reell ist. Die reellen Zahlen haben in diesem Sinn keine Lücken und sind ein vollständiger Körper. Im selben Sinn sind das die komplexen Zahlen aber auch.

Kombiniert man beides, kann man zeigen, dass es (bis auf Isomorphie) genau einen vollständigen, geordneten Körper gibt.

Das sind die reellen Zahlen.

Diskussion

Die rellen Zahlen sind ein sehr abstraktes Konzept, für das die Dezimalzahlen bzw. Pfeile zwei konkrete Darstellungen sind. Gibt es noch weitere?

Eine weitere mögliche Darstellung wären Kettenbrüche. Es ist z.B.

2.34 = \mathbf{2} + \dfrac{1}{\mathbf{2} + \dfrac{1}{\mathbf{1} + \dfrac{1}{\mathbf{16}}}} .

Das kann man kurz als die folgende Zeichenkette schreiben:

2.34 = [2; 2, 1, 16] .

Es gibt Algorithmen, mit denen man direkt in der Kettenbruch-Darstellung addieren/multiplizieren kann. Diese Algorithmen sind aber viel komplizierter als die, die für die Dezimalzahlen verwendet werden.

Weitere wesentlich andere Darstellungen mit Rechenoperationen sind mir ad hoc nicht eingefallen. Vielleicht hat ein Leser noch einen Vorschlag?

Ein ähnlicher Zugang wie in diesem Beitrag wird hier beschrieben.

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