Komplexe Zahlen, Teil 2 – Multiplikation, Drehung und die Eulersche Formel

Im 1. Teil haben wir gesehen, dass die Multiplikation komplexer Zahlen eine Drehstreckung der entsprechenden Pfeile ist. Wie Abb. 1 zeigt, wird aus der Drehstreckung eine einfache Drehung, wenn einer der Pfeile die Länge 1 hat.

raz
Abb. 1: Der Pfeil \underline{R}_\alpha hat die Länge 1 und den Winkel \alpha zur positiven reellen Achse (links). Multipliziert man einen beliebigen Pfeil \underline{z} mit \underline{R}_\alpha, wird \underline{z} einfach um den Winkel \alpha gedreht (rechts).

Das haben wir schon bei der Multiplikation des Pfeils \underline{i} mit sich selber gesehen, um \underline{i}^2 = -1 zu erhalten.

Dreht man \underline{z} zuerst um den Winkel \alpha und danach um den Winkel \beta, hat man insgesamt um den Winkel \alpha + \beta gedreht. Genauso gut hätte man zuerst um den Winkel \beta und dann erst um den Winkel \alpha drehen können. Die Vertauschbarkeit der Rotationen um die Winkel \alpha und \beta entspricht also der Kommutativität der Multiplikationen \underline{R}_\alpha und \underline{R}_\beta. Es muss daher gelten

\underline{R}_\beta\cdot\underline{R}_\alpha=\underline{R}_\alpha\cdot\underline{R}_\beta=\underline{R}_{\alpha+\beta} .

Aus einer Multiplikation wird so eine Addition.

Beim Rechnen mit Potenzen hat man etwas Ähnliches. Aus einem Produkt wird die Summe der Exponenten

a^n \cdot a^m = a^{n + m} .

Kann es also sein, dass \underline{R}_\alpha eine Potenz

\underline{R}_\alpha = (\underline{R}_1)^\alpha

ist, wobei die Basis \underline{R}_1 ein noch zu bestimmender Pfeil ist?

Dabei ist \underline{R}_1 die Drehung um den Einheitswinkel. Das ist aber nicht 1°, weil die Teilung des vollen Winkels in 360° eine historische Willkür ist. Stattdessen verwendet man das Bogenmaß, bei dem der Einheitswinkel so gewählt wird, dass der entsprechende Kreisbogen ebenfalls die Länge 1 hat (s. Abb. 2). Umgerechnet ergibt das \alpha = 1 \approx 57.3^\circ.

r1
Abb. 2: Der Einheitswinkel \alpha = 1 \approx 57.3^\circ ist so festgelegt, dass der entsprechende Kreisbogen die Länge 1 hat.

Aber welche komplexe Zahl ist \underline{R}_1? Dazu machen wir uns klar, dass die Drehung um den Einheitswinkel dasselbe ist, wie 2-mal hintereinander um den halben Einheitswinkel zu drehen. Oder 3-mal um ein Drittel des Einheitswinkels. Oder …

\underline{R}_1 = (\underline{R}_{1/2})^2 = (\underline{R}_{1/3})^3 = \dotsb = (\underline{R}_{1/n})^n .

Was genau hat uns das jetzt gebracht? Nun, wenn n sehr groß ist, dann ist \underline{R}_{1/n} ein Pfeil der Länge 1, der den kleinen Winkel 1/n hat (s. Abb. 3).

r1n
Abb. 3: Der Realteil von \underline{R}_{1/n} ist \approx 1 und der Imaginärteil ist \approx 1/n.

In diesem Fall ist der Teil von \underline{R}_{1/n} entlang der reellen Achse (der Realteil) \approx 1 und der Teil entlang der imaginären Achse (der Imaginärteil) ungefähr so lang wie der Kreisbogen 1/n. D.h.,

\displaystyle\underline{R}_{1/n} \approx 1 + \frac{1}{n} \cdot \underline{i} = 1 + \frac{\underline{i}}{n} .

Daher ist für große n

\displaystyle\underline{R}_1 = (\underline{R}_{1/n})^n \approx \left(1 + \frac{\underline{i}}{n}\right)^n .

In der reellen Analysis hat man so einen ähnlichen Ausdruck schon gesehen. Für große n ist nämlich

\displaystyle\left(1 + \frac{x}{n}\right)^n \approx e^x ,

wobei e = 2.718\dots die Eulersche Zahl ist. Diese Näherung wird für n \to \infty exakt.

Analog kann man daher vermuten, dass

\displaystyle\underline{R}_1=e^{\underline{i}}

ist. Die reelle Zahl e=2.718\dots hoch die komplexe Zahl \underline{i}, die mit sich selber multipliziert \underline{i}^2 = -1 ergibt, entspricht also einem Pfeil der Länge 1, der den Winkel \alpha = 1 \approx 57.3^\circ zur positiven reellen Achse hat.

Damit erhält man weiter

\displaystyle\underline{R}_\alpha=(\underline{R}_1)^\alpha=\left(e^{\underline{i}}\right)^\alpha=e^{\underline{i}\alpha} ,

wobei wir die Potenzrechenregel (e^a)^b = e^{a \cdot b} verwendet haben. Der komplexen Zahl e^{\underline{i}\alpha} entspricht also einfach ein Pfeil der Länge 1, der den beliebigen Winkel \alpha zur positiven reellen Achse hat. Wenn man eine beliebige komplexe Zahl \underline{z} hat, dreht eine Multiplikation mit e^{\underline{i}\alpha} den entsprechenden Pfeil einfach um den Winkel \alpha weiter.

Zeichnet man sich \underline{R}_\alpha auf, kann man den Pfeil als Hypotenuse eines rechtwinkeligen Dreiecks sehen (s. Abb. 4). Der Realteil bildet die eine Kathete und kann als \cos\alpha berechnet werden. Der Imaginärteil bildet die andere Kathete und ist gleich \sin\alpha.

ralpha
Abb. 4: Die Eulersche Formel folgt aus der Trigonometrie rechtwinkeliger Dreiecke.

Daher muss

\displaystyle\boxed{e^{\underline{i}\alpha} = \cos\alpha + \underline{i}\sin\alpha}

sein. Das ist die berühmte Eulersche Formel.

Weiter in Teil 3.

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